Tagesmeldung vom 18.04.2023
Liegeplatz 29 Ostseekai, Kiel
Position 54°19,5′ N|010°08,5 E
Kurs, Speed 000 | 0kn
Etmal nm
Wind NE – 4-5bft
Luftdruck 1028 hpa
Bedeckung 2/8
Temp (L/W) 12°C, 10°C
Vorletzter Törntag – ein volles Programm.
Der Start in den Tag folgt dem gewohnten Standard – die Hafenwache weckt Smut und Backschafter und wenn die frisch gebackenen Brötchen schon lecker duften, auch das ganze Schiff. Diesmal mit Heavy Metal Musik (Grüße gehen raus an Zottel!).
Gestärkt stehen alle bereit zum Ablegen im All Hands-Betrieb – alles entspannt und mittlerweile gut geübt. Klar vorn und achtern. Eindampfen in die Achterspring. An Land wird die letzte verbleibende Leine vom Poller genommen. Noch eben die einlaufende Colour Fantasy zu ihrem Liegeplatz lassen und dann starten wir noch eine kleine Kreuzfahrt in der malerischen Kieler Förde. Zum Nachmittag noch ein letzter geschmeidiger Anleger an unserem finalen Liegeplatz für die nächsten Tage.
Das war er schon fast – unser Törn 0800 – im übrigen auch der 111ste Törn unseres Kapitäns auf Traditionsschiffen. An Bord startet die übliche Törnende-Routine – die letzten Ausbildungseinheiten, verschiedenste Dinge zurück räumen, Konsumverzehr begleichen und ein „großes Reinschiff“, damit wir das Schiff sauber an unsere Nachfolger übergeben können. Währenddessen wird in der Kombüse unter Leitung unserer unermüdlichen Smut Anna ein leckeres Abschiedsessen für den Abend gezaubert. Es muss einfach lecker sein, denn es duftet schon seit einiger Zeit verführerisch durch das Schiff.
Es bleibt keine Zeit alle ausführlicher zu beschreiben! Wer den Zauber eines Roald-Törns erleben möchte – einfach selbst mal mitmachen und es selbst erleben.
Hier noch ein paar schöne Törnschnipsel von Dingen, die uns so begegnet oder passiert sind.
• Der Bagger mit dem Namen „Rolling Stone“
• Unser neues Lieblings-Ruderkommando „Ruder Hart Mittschiffs“
• Wenn der Kapitän auf Brücke sagt „gebt mir 5 Kurze“, dann hat er nicht Durst sondern meint 5 kurze Töne mit dem Typhon (Ausweichpflichtiges Fahrzeug wird auf die Ausweichpflicht aufmerksam gemacht)
Und hier kommt noch die Lösung zum astronomisch ermittelten Ort basierend auf den Sextantbeobachtungen von Sonne und Mond vom 14.4.2023. Siehe Aufgabe in der Tagesmeldung vom 14.4.23.
Ob φ:53° 14,5‘ N ʎ: 004°44,7‘ E
Die komplette Musterlösung für die Taschenrechner- und die HO-Tafel Variante ist bei Thilo auf Anfrage per E-Mail: thilo_fink@yahoo.de erhältlich.
Im Anschluss für Lesehungrige noch eine aktuelle Studie, die erstmalig auf dem Captains-Dinner veröffentlicht wurde:
Studie:
Rudergehen bei Manövern
unter besonderer Berücksichtigung der körperlichen Fitness des Rudergänger:In beim Anlegen von Traditionsseglern.
– eine wissenschaftliche Auswertung
Ersteller:
Jürgen Kiel
Heike Schlachter
Steuerleute und wissenschaftliche Mitarbeiter im Auftrag des Vereins LlaS e.V.
Kiel, April 2023
1. Einführung:
Rudergehen – insbesondere bei Manövern wie An- und Ablegen – erfordert neben der Kenntnis nautisch-seemännischer Begriffe eine definierte Grundfitness und Schnelligkeit am Steuerrad. Es gibt hartnäckige Gerüchte, dass einige Kapitän:Innen von den auch umgangssprachlich „Gefechtsrudergänger:Innen“ für diese Art der Manöver einiges an Fitness abverlangen. Die vorliegende Studie versucht diese Hypothesen auf einer analytischen Basis eine Grundlage zu verleihen. Welche Leistungen sind an dieser Manöverstation zu erbringen? Welchen Herausforderungen steht ein Gefechtsrudergänger gegenüber? Im zweiten Teil wird aus der Analyse der Aufbau eines möglichen Leistungstest zum Überprüfen der Qualifikation vor dem eigentlichen Manöver abgeleitet.
2. Aufbau der Analyse:
Grundlage sind die Aufzeichnungen der STS Roald Amundsen – Rufzeichen DARG – des Törns 0800 Amsterdam – Kiel. Ausgewertet wurde die Aufzeichnungen in dem Brückenmanöverbuch des Anlegers der Roald Amundsen am Tiessenkai in Kiel-Holtenau am 17.04.2023 gegen 17:30 Ortszeit. Der Anleger wurde kommandiert von Kapitän Thilo Fink.
Die Wetterbedingungen am Anleger: NNE 3-4, also ablandiger Wind. Als Anlegeseite wurde die Backbordseite der Roald gewählt. Die Qualifikation des Rudergängers wurde im Laufe der Reise als „zufriedenstellend und für die Aufgabe qualifiziert“ vom Toppsgast:In und Steuermann:In der Wache eingestuft.
Teil 1 – Analyse und Ableitung
3. Analyse der Daten:
Erfassungszeitraum sind die neun Minuten von der Ansteuerung des Liegeplatzes um 17:29 bis zum Überbringen der letzten Leine und dem letzten Ruderkommando um 17:39. Reduziert auf die reinen Ruderkommandos – ohne Berücksichtigung der gleichzeitig erfolgten Kommandos an den Maschinentelegraphen/Maschinisten und ohne Kommandos zu den Festmacherleinen. Eine Abschrift der Ruderkommandos kann im Anhang 1 dieser Studie eingesehen werden.
4. Ergebnisse:
• In den 9 Minuten erfolgten 24 Ruderkommandos. Dies entspricht einem Durchschnitt von einem Ruderkommando alle 22 Sekunden, also knapp 3 auszuführenden Kommandos pro Minute.
• Die längste Zeitdauer zwischen 2 Kommandos beträgt dabei 37 Sekunden
• In Summe wurden 335° Ruderlage kommandiert, also der Weg von Bb10 auf Stb15 über den Bug gedreht, welches 134 Umdrehungen am Ruder entspricht.
• Durch Differenzieren (Ableiten) ergibt sich hieraus eine Winkelgeschwindigkeit von 37,2° pro Minute am Ruderblatt, welches für den Rudergänger (außen) 14,8 Umdrehungen pro Minute am Steuerrad entspricht. Dieses bedeutet einer Umdrehung am Steuerrad alle 4050 ms, wobei jedem oder auch jeder sofort klar ist, dass die Kommandos nicht gleichmäßig verteilt über den Anleger erfolgen.
• Zur Verdeutlichung umgerechnet bedeutet dies eine Hart-Ruderlage alle 40 Sekunden… und dieses 9 Minuten lang!
Die Eingangshypothese der Arbeit – eine hohe einzubringende Leistung der oder des Rudergänger*In ist eine zwingende Voraussetzung. Eine hohe körperliche Fitness und ausreichendes Training im Laufe eines Törns vor dem Anleger erhöht die Abrufbereitschaft der erforderlichen Leistung.
Fazit: es sind keine Gerüchte, sondern wissenschaftlich bestätigte Fakten.
Teil 2: Qualifikationstest vor dem Manöver
5. Ableitung eines Qualifikationstest vor dem Manöver
Mit Kenntnis dieser Daten wird im Folgenden der Ansatz eines Eignungstestes für mögliche Gefechtsrudergänger:Innen skizziert, um sicher zu stellen, dass das eingesetzte Crewmitglied den Herausforderungen der Aufgabe körperlich gewachsen ist und nicht zu einem Abbruch des Gesamtmanövers führt.
5.a. Bei Törnanmeldung
Für die Decksbesatzung ist neben dem Seediensttauglichkeitszeugnis ein erfolgreich absolvierter Fitnesstest alternativ ein Aufnahmebescheid für die Sporthochschule oder den Blaulichtträgerdienst.
5.b. Test vor Törnbeginn
Es sind 15 Radumdrehungen entsprechen einer Ruderlagenänderung von Mitschiffs auf Hart Steuerbord in unter 60 Sekunden zu legen. Die Autoren der Studie empfehlen dieses Verfahren in das „Prozedere Klarmachen der Brücke vor dem Ablegen“ als Standard aufzunehmen.
5.c. Nachqualifizierung während des Törns (insb. Trainees)
Im Laufe eines Törns kann bereits ab dem ersten Einsatz als Rudergehender eine Ausbildung erfolgen. Die Einweisung sollte durch Steuermann der Wache erfolgen.
6. Erweiterter Test mit Berücksichtigung der Sprache
Alle Kommandos sind nicht nur auszuführen, sondern jeweils zu quittieren (Wiederholen des Kommandos) sowie deren erfolgte Ausführung auch laut auszurufen (z.B. Ruder liegt hart Steuerbord). Ein weiterer Fitnessfaktor, der im Eignungstest erfasst werden kann. Hierbei wird vereinfacht angenommen, dass das Quittieren und das Ausrufen der erfolgten Manöver – bei 3 Kommandos pro Minute – ca. 21 Wörter benötigt.
Insofern kann der Test erweitert werden, indem der zu testende Rudergänger innerhalb der Minute auch noch ein Gedicht oder Liedtext mit rund 21 Wörtern laut aufsagt. (z.B. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord,… -bis- …über Bord“).
Im Anschluss erfolgt eine Messung des Pulses. Sofern die Pulsfrequenz dabei kleiner oder gleich dem Ruhepuls des Kapitäns ist, kann der Ruder-Aspirant als „ausreichend qualifiziert“ eingestuft werden. Liegt der Puls über dem Referenz Ruhepuls ist von einem Einsatz als Gefechtsrudergänger abzuraten.
7. Optimierungspotential
Der 1. Steuermann sollte immer häppchenweise Salami parat haben, um während des Kommandorauschs eine gewisse Dämpfung zu erreichen. Dies könnte jedoch die Pulsrate des Kapitäns verringern und das Leistungslevel für den erweiterten Test erhöhen.
8. Schlussbemerkung
Da die Studie nur auf den Daten eines Anlegers basiert, ist keine allgemeingültige Aussage zu treffen und diese lediglich als Vorstudie zu werten. Jedoch kann zweifelsfrei festgestellt werden, dass das Rudergehen dem Gefechtsrudergänger ein hohes Fitnesslevel abverlangt.
Mehrere der vorliegenden Analyse folgenden Anleger am 18.04. haben die Fazits auf den ersten Blick weiter validiert. Eine detaillierte Auswertung dieser Anleger kann im Rahmen dieser Studie nicht mehr erfolgen.