Der Wind hat viele Farben – queerer Törn 2024
Es ist ein warmer Vormittag am Stralsunder Hafen, als ich mir mit einigem Gepäck auf dem Rücken den Weg durch die Menschenmenge bahne. Von weitem schon sehe ich mein Ziel, die wunderschöne Brigg Roald Amundsen, an deren Großtopp eine Regenbogenflagge weht und mir, sowie allen anderen Menschen, die sich zum queeren Törn angemeldet haben, den Weg weist.
Ich bin elektrisiert, ich habe keine Ahnung, was mich erwarten wird. Lachende Gesichter und gute Stimmung empfangen mich, als ich über die Gangway das Deck betrete. Ich spüre direkt, hier bin ich sicher, ich bin willkommen und: Das hier wird ein großes Abenteuer. Ich sehe viele Personen zum ersten Mal, noch nicht ahnend, wie sehr uns die nächsten sieben Tage zusammenschweißen werden, wie viel wir lernen, gemeinsam wachsen und wie sehr wir uns vermissen werden, wenn wir wieder von Bord gehen.
Wir sind eine sehr vielfältige Gruppe, die jüngste Person 14 Jahre alt, die älteste an die 70, mit etwas oder gar keiner Erfahrung auf Schiffen, aus Deutschland oder anderen Teilen der Welt, queer und nicht queer.
Wir werden durch das Schiff geführt. Es herrscht energisches Treiben, die freudige Aufbruchstimmung ist fast greifbar. Ich beziehe meine Kammer. Gemeinsam mit drei anderen Personen, werde ich die nächsten Tage einen Raum mit vier Kojen teilen.
Wir bekommen erste Einweisungen und dann geht es schon los – wir legen ab. Die Begeisterung ist groß, auch wenn wir bisher noch nicht segeln, sondern den Hafen mithilfe der Maschine verlassen, hinaus auf das weite, in der Nachmittagssonne glitzernde Meer.
Wir werden in drei Teams, die sogenannten Wachen, eingeteilt. Abwechselnd werden wir die nächsten Tage für das Schiff sorgen, es auf Kurs halten, in der Kombüse für die Verpflegung der Crew sorgen, Sauberkeit einhalten und vor allem, lernen.
In der ersten Nacht habe ich Ankerwache mit einer Person aus der Stammcrew, die ich sofort ins Herz schließe. Sie zeigt mir, wie ich Werte zu unserer Position für die Steuerpersonen in ein kleines Buch eintrage, den Anker kontrolliere, Freuerronden mache, um sicherzugehen, dass unter Deck alles in Ordnung ist, und wir bereiten die Brötchen für den nächsten Tag vor. Dazwischen sitzen wir unter einem klaren Sternenhimmel an Deck und reden über alles, was uns einfällt.
In den nächsten Tagen geht es richtig los. Die Stammcrew bringt uns bei, wie die Tampen, Segel, Bäume, Schoten und Masten heißen und wie wir uns an Deck richtig verhalten. Dabei staune ich immer wieder über das Wissen der Personen, die uns anleiten, über deren Fähigkeit, uns absoluten Anfänger*innen komplexe Themen zu vermitteln und Fehler stets geduldig und freundlich in neues Wissen zu verwandeln.
Wir lernen, wie man die Segel ausrichtet, wie man nach oben, auf die Masten klettert, um sie auszupacken oder wieder einzupacken und haben abwechselnd die Möglichkeit am Ruder zu stehen und dafür zu sorgen, dass der Wind unser Schiff voranbringt. Wir stehen im Ausguck an der Spitze des Schiffs und beobachten die Weite um uns. Wir schrubben das Deck sowie die Räumlichkeiten und kochen füreinander. Wir sitzen zusammen, erzählen uns, wer wir sind, und tauschen uns darüber aus, was wir gerade alles erleben. Wir helfen uns gegenseitig Grenzen zu überwinden und passen aufeinander auf, fallen nach unserer Wache todmüde ins Bett und wecken uns sanft für die nächste. Wir lachen und stöhnen, halten zusammen und schaffen es, gemeinsam etwas zu bewegen: dieses große Traditionssegelschiff, dass nicht aufhört, uns zu begeistern. Und dabei kommen wir uns nahe, queere und nicht queere Menschen, ohne Vorurteile, offen und tolerant.
Die Woche vergeht schnell, ist von stetem Sonnenschein, einem ruhigen Meer und günstigem Wind begleitet. Als der vorletzte Tag kommt, sitzen wir in unseren Wachen zusammen. Wir rekapitulieren die vergangene Woche. Was war gut? Was haben wir erlebt? Schnell wird klar, wir haben diese Zeit alle sehr genossen. Besonders bewegen mich aber die Rückmeldungen der nicht queeren Menschen in meiner Wache. Sie berichten, dass sie sich noch nie so sicher in einer Gruppe von fremden Menschen gefühlt haben. Dass sie sich wünschen würden, alle wären so respektvoll, achtsam und einfühlsam in ihrem Umgang miteinander. Es rührt mich zutiefst, das zu hören und ich bin in diesem Moment unglaublich dankbar für die letzten Tage, vor allem aber für die Aufklärung, die die gemeinsame Zeit an Bord so ganz nebenbei geleistet hat.
Am Abend sitzen wir an Deck und sprechen unter verschiedenen queeren Fahnen, die zwischen den Masten gespannt sind, diverse Themen, die uns beschäftigen. Der Abend hat zum Ziel, noch einmal Aufklärungsarbeit zu leisten. Fragen und Themen, von denen sich die Anwesenden gewünscht haben, dass sie behandelt werden, wurden gesammelt und dann in kleinen Gruppen diskutiert. Und wieder sind alle respektvoll, freundlich und gelassen.
Am letzten Tag laufen wir in den Hafen ein. Wir werden winkend von Passant*innen begrüßt. Die Stimmung ist schön und wehmütig, denn es ist auch klar, dass unser Abenteuer bald zu ende ist. Wir packen ein letztes Mal die Segel ein und dann liegt unser Schiff fest an der Pier. Am Abend haben wir noch einmal Zeit für uns, ganz ohne Programm. Ein paar haben sich eine Gitarre geschnappt und singen. Die anderen sitzen zusammen und reden, lachen und haben Spaß. Ich beobachte, wie einige Personen, die am ersten Tag noch schüchtern und zurückhaltend waren, jetzt ausgelassen und fröhlich sind.
Am Morgen der Abreise gibt es ein großes Frühstücksbuffet an Deck. Das Team in der Kombüse hat noch mal alles gegeben und verwöhnt die Crew mit Pancakes und anderen Leckereien. Wir sitzen zusammen und genießen diese letzten Momente vor der Abreise.
Als alle Taschen gepackt und die Kammern gereinigt sind, verabschieden wir uns voneinander. Wir drücken uns, versichern uns, das wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir uns sehen. In nur einer Woche an Bord, sind aus fremden Menschen Freunde geworden und wir alle nehmen Erinnerungen und wertvolle Eindrücke mit, die noch lange nachklingen.