Tagesmeldung vom 02.03.2023

Tagesmeldung vom 02.03.2023

Tagesmeldung von Bord
Törn 0797 | Ponta Delgada
auf dem Atlantik

Position 34°15,2′ N|044°53,7′ W
Kurs, Speed 080 | 6,3kn
Etmal 151nm
Wind WNW – 7bft
Luftdruck 1011 hpa
Bedeckung 5/8
Temp (L/W) °C, 17°C

Barys Geschichte

Wie zu jedem Zwielicht krabbelten die zwei Zwielichtzwerge Quento und Zwille (erinnert ihr Euch noch?) aus ihrer Lieblingsbriggsegelfalte und warten auf Bary, ihren Klabautermannfreund.
Doch irgendetwas stimmte nicht, Bary war sonst stets pünktlich, aber heute tauchte er nicht auf. Und auch der typische Kaffeegeruch fehlte.

So hüpften die beiden im Zwielicht los, entlang des Briggbaums auf den Großmast. Dort hielten sie inne und schauten sich suchend um. Da saß Bary, gedankenverloren auf der Spitze des Klüverbaums und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Die beiden schauten sich sorgenvoll an, was war da los? Beide strafften ihren Sicherheitsgurt und gesellten sich zu Bary auf den Klüverbaum. Hej Bary, wir haben auf dich gewartet, plapperte Quento los. Zwille verdrehte die Augen, man sah doch, dass Bary traurig war. Hallo ihr zwei, antwortete Bary, mir ist heute nicht nach Gesellschaft, sorry. Und mehr brachten die beiden auch nicht aus ihm heraus. Zwille zog Quento irgendwann fort. Lassen wir ihn in Ruhe, jeder braucht mal Zeit für sich, sagte Zwille. Quento schaute etwas verständnislos. Aber wir sitzen doch jedes Zwielicht zusammen, protestierte er. Heute nicht, meinte Zwille besorgt. Lass uns bei diesem Wetter von der Royal nach Delfinen Ausschau halten, dass bringt uns vielleicht auf andere Gedanken und morgen ist bestimmt alles wieder wie immer. Gesagt getan.

Aber auch am nächsten Tag warteten die beiden Zwielichtzwerge vergeblich auf Bary. Sie hüpften suchend los, fanden ihn aber nicht an Deck. Jede seiner Lieblingsstellen klapperten sie ab, nichts. Wo steckt er nur, überlegte Quento, haben wir einen Lieblingsplatz vergessen? Im Dinghi, vorn auf dem Klüver, auf der Vorroyal, achtern beim Briggbaum und auf dem Steuerbordanker hatten sie geschaut. Sollen wir bis zum Nachmittag warten und in der Keksdose nachsehen, fragte Quento, oder den Bootsmann belauschen, ob er ein Klappern gehört hat?

Das dauert mir zu lange, meinte Zwille, da stimmt doch was nicht. Wir sehen unter Deck nach. Da das Zwielicht im Moment zur Zeit des Wachwechsels der 2ten und 3ten Wache war, war es unter Deck ruhig. Ungestört kamen sie voran. Es war ziemlich anstrengend. Sie schauten in der Kombüse hinter alle Gewürze, in der Messe in alle Backskisten, im Tigergang in jeden Schrankwinkel, hinter den Trockner, in die Schreibtischschublade des Kapitäns, in den Konsumschrank der Toppsikammer, den Kleiderschrank der Steuerleute, in jeder Kammer unter die Kojen und im Messelogis unter alle Tauwerkscoills. Erschöpft machten sie in der Bootsmannslast Pause. Seit dem diese so neu war, trauten sie sich hier gar nicht mehr rein. Alles war so anders. Da, hörst Du es? fragte Zwille. Und auch Quento hörte ein Seufzen. Sie kletterten dem Geräusch hinterher und landeten zusammen in der Kiste mit Kleedwerkzeug. Hierhin hatte Bary sich verkrochen. Da hätten sie ja auch drauf kommen können, hier roch es immer ein bisschen nach Hüsing, das beruhigte Bary immer.

So, platze Quento los, was ist los Bary, sag schon! Zwille rollte wieder mit den Augen aber Bary setzte sich auf und schaute die beiden traurig an. Ich bin vielleicht gar kein Klabautermann, sprudelte es aus ihm heraus. Die beiden Zwielichtzwerge starrten ihn mit offenem Mund an. Sie kannten keinen waschechteren Klabautermann als ihren Freund Bary (aber ehrlich gesagt, sie kannten auch nur einen Klabautermann). Zwille legte den Arm um Bary, nun mal immer der Reihe nach. Wieso solltest Du kein Klabautermann sein?
Bary atmete tief durch und begann zu erzählen: Neulich nachts in der Wache 1 saß die ganze Wache auf der Brücke und ein alter Seebär erzählte eine Geschichte, die ein gewisser Hans Leip in eines seiner Bücher schrieb. Dieser Seebär trug eine neongelbe Jacke und eine rote Mütze, eigentlich sah er auch eher nach einem alten Seekrokodil als nach einem Seebären aus, murmelte Bary. Und so wiederholte Bary wortwörtlich die Geschichte vom Klabautermann, die der alte Mann erzählt hatte:

Es gibt junge Mädchen, die nicht gern in Booten segeln, deren Planken aus Eichenholz sind. Sie fürchten sich vor dem Klabautermann. Es könnte sein, dass unter der Eiche, von der das Holz stammt, einst eine Kindesmörderin ihr Kind vergraben hat. Dann spukt es auf dem Boot. Unversehens rasselt, klirrt, klopft oder poltert es dann manchmal unter Deck, und manchmal sitzt mit uraltem Kindergesicht ein kleiner Mann in dem grauen oder blauen Anzug eines Waisenkindes auf dem Klüver und raucht eine Tonpfeife. Wenn man am 29. Februar genau acht Glas Mitternacht bei Vollmond in der Minute der Flutkenterung an der Küste des Meeres geboren wurde, kann man den Klabautermann sehen. Es ist der Geist des ermordeten Kindes. Und danach gibt es zumeist Havarie. Nicht immer geht das Schiff unter. Wenn junge Frauen an Bord sind, begnügt sich der Klabautermann zumeist damit, das Geheimnis der Seelenwanderung zu seiner Erlösung auszunutzen und den Keim zu segnen zu seiner Neugeburt. Das Kind nun, darin er sich erlöst, pflegt ein Junge zu sein, der den unwiderstehlichen Drang zur See in sich spürt und das Zeug hat, ein berühmter Admiral oder Seeräuber zu werden.

Danach war es eine Weile still. Die Geschichte war echt gruselig. Quento und Zwille schauten Bary fassungslos an, das konnte doch nicht stimmen. Sicher, das Klappern, das mit dem Klüver und der Tonpfeife kam der Wirklichkeit schon sehr nah, aber Bary machte doch keinem an Bord Angst. Und so plapperten die beiden durcheinander los, es könne nicht sein, da haben dieses Seekrokodil und dieser Schreiberling wohl ein ganz falsches Bild von den Klabautermännern. Und die Roald sei ja auch ein Stahlschiff und kein Eichenboot. Aber Bary ließ sich nicht überzeugen. Wenn hier keine Eiche ist, bin ich vielleicht gar nicht geboren oder gar kein Klabautermann sondern nur ein Möchtegernklabautermann, stammelte er.

Dann, meinte Zwille, müssen wir rausfinden, wo Du eigentlich herkommst! Nachforschungen anstellen. An was kannst du dich als erstes erinnern?
Bary stutzte und versuchte sich zu konzentrieren. Aber ihm fiel nichts ein. Da das Zwielicht schon sehr lange vorüber war, beschlossen die drei Detektive sich auf den nächsten Tag zu vertagen und hüpften zurück zu ihrem Briggsegel.

Zum nächsten Zwielicht zerrte Bary die beiden Zwerge aus ihrer Falte. Rum! Sagte er, Rum! Die beiden blinzelten verschlafen, Rum? So früh zum Zwielicht? Na gut, warum nicht. Erwartungsvoll setzten sie sich auf. Nein, nicht jetzt zum Trinken, lachte Bary. An Rum, kann ich mich als eines der ersten Gerüche erinnern.
Das muss zu der Zeit gewesen sein, als es hier noch keine Masten und Segel gab, sagte Bary. Zwille und Quento rissen die Augen auf: ein Schiff ohne Masten und Segel? Wie soll denn das segeln? Na gar nicht, kicherte Bary, wir haben doch auch eine Maschine… Aber darum geht es nicht. Ich zeige es euch, meldete er voller Tatendrang. Sie hüpften in die Messe und stöberten in ein paar Büchern, wo sie einige Fotos von früher fanden. Zugegeben ziemlich graue Fotos mit falschem Namen, da stand Vilm. Und schöner sah die Roald jetzt auf jeden Fall aus, da waren sich alle einig.

Aber hier steht was von Tanklogger und Versorgungsschiff der DDR, was auch immer das heißt, las Quento vor, aber Tanks riechen doch nicht nach Rum!
Nein, Gott sei Dank nicht, seufzte Bary, ich meine mich zu erinnern, dass ich damals von den Seeleuten eine Geschichte gehört habe, dass bei der Kiellegungsfeier ein großes Fass Rum geleert wurde. Dieses war aus der Karibik geschmuggelt worden, aber vorher in Schottland gewesen, eines der besten Eichenfässer, erzählten sie sich. Und eine der besten Rumsorten sowieso. Bei der Feier ist es sehr fröhlich zugegangen, da wurde das leere Fass irgendwann zerschlagen und das Holz kurzerhand mit in den Beton des Kiels geworfen, damit später keine Spuren von karibischen Rum oder einer Feier zu finden wären. Das war wohl damals alles verboten.

Potz Blitz, staunten die zwei Zwielichtzwerge, das war ja mal ordentliches Seemannsgarn. Das heißt, du stammst aus einem Rumeichenfass, schlussfolgerte Zwille. Das erklärt auf jeden Fall, warum du keinem Angst machst und immer so fröhlich bist, lachte Quento. Also bist Du doch ein echter Klabautermann, nur ein besserer, strahlte Zwille Bary an. Dieser nickte glücklich und zog seine Quetschkommode sowie eine Flasche guten karibischen Rum hervor. Ausgelassen saßen die drei Freunde auf dem Briggbaum, leerten die Gläser und sangen ihre Lieblingsshantys. Zufällig saß zu dieser Zeit achtern ein einem Piraten sehr ähnlich aussehender Bootsmann, rauchte zufrieden und spielte Akkordeon. Die Wachen lauschten gedankenverloren der Musik und sahen der Sonne beim Verschwinden im großen blauen Meer zu, während die Roald sich in den Wellen wiegend ruhig und unbeeindruckt der Dinge, die an Bord geschahen weitersegelte.

In alter Tradition auf der Strecke Bermuda – Azoren (zuletzt 2018 und 2020 gesegelt) ist dies Teil 3 der Geschichte.
Vera grüßt alle HSHSler, Toppsi Karo, das Seekrokodil, Karlo, Jürgen und alle Fans

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